Abweichungsursachen
Auf den ersten Blick mag es erfreulich erscheinen, dass die Arbeitslosigkeit sich nicht nach dem auf den vorangegangen
Seiten beschriebenen Szenario entwickelt hat. So lag die Arbeitslosigkeit 2005 mit ca. 5,0 Mio. um 1,0 Mio. Menschen unter
dem Wert der Prognose aus dem Jahr 1995. Der Wert von ca. 3,5 Mio. Arbeitslosen im Jahr 2008 vergrößert den Abstand zur
Prognose nochmals.
Man könnte meinen, die Annahmen abnehmender Wachstumsraten und steigender Produktivitätsraten seien von Grund auf falsch.
Doch dem ist leider nicht so - und zwar aus folgenden Gründen:
- Kurzfristige Konjunkturschwankungen sind in der langfristigen Prognose nicht enthalten.
Die vor 2008 liegenden Jahre sind durch einen lange andauernden Aufschwung der Wirtschaftsleistung gekennzeichnet.
Dass es doch noch Schwankungen gibt, wird insbesondere angesichts der 2009 beginnenden Rezession deutlich. Seitdem
ist beispielsweise innerhalb weniger Monate die Zahl der Kurzarbeiter um etwa 0,7 Mio. gestiegen.
- In den Statistiken ist die Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse nicht enthalten.
Diese Zahl ist von 4,4 Mio. im Jahr 1992 um 2,8 Mio. auf 7,2 Mio. im Jahr 2008 gestiegen (Bundesagentur für Arbeit).
Davon sind 66% ausschließlich geringfügig beschäftigt. Dies entspricht einer zusätzlichen Arbeitslosigkeit von 1,0
Mio. Menschen. Die resultierende Problematik für durch die Analysen des DIW zur Einkommensungleichheit von 2007
bestätigt: So hat die Zahl der armutsgefährdeten Menschen von 1996 bis 2006 um ca. 3,8 Mio. Menschen zugenommen.
- Deutschland ist Schlusslicht bei der Einkommensentwicklung in der Europäischen Union:
So beträgt die durchschnittliche jährliche Zunahme der realen Bruttoverdienste je Arbeitnehmer im Zeitraum von
2000 bis 2010 bei 0,3% gegenüber der EU (27) von 0,8% und den neuen Mitgliedern im Osten von 3,0 bis 9,6%
(EU-Kommission, OECD). Folglich besteht auch kein Anreiz für Unternehmen, besser zu werden; besser zu werden im
Hinblick auf eine höhere Produktivität. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit wird durch Lohn- und Sozialdumping
und nicht durch Produktivität und Innovationen aufrechterhalten.
- Der Produktivitätszuwachs stagniert:
Im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom September 2002 steht: "Die Rate der Arbeitsproduktivität wird unter
anderem von der Entwicklung der realen Arbeitskosten beeinflusst. Steigen diese zu rasch an, kommt es tendenziell
zu einer Substitution von Arbeit durch Kapital und die 'Beschäftigungsschwelle', also die Wachstumsrate, ab der
die Beschäftigung zunimmt, erhöht sich." Doch leider wurde nicht erwähnt, dass ein Verzicht auf Produktivität
mittel- spätestens jedoch langfristig auch mit einem Verzicht auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbunden
ist.
- Deutschland ist Exportweltmeister:
Das Land lebt auf Kosten seiner Nachbarn. Der Außenhandelssaldo ist von 43,6 Mrd. Euro im Jahr 1995 auf 176,2 Mrd.
Euro im Jahr 2008 gestiegen. Das bedeutet, dass im Jahr 2008 etwa 3,0 Mio. und im Jahr 1995 etwa 1,0 Mio. Menschen
vom Exportüberschuss gelebt haben. Das entspräche einer zusätzlichen Arbeitslosigkeit von 2,0 Mio. Menschen. In der
Abbildung wird im Sinne einer konservativen Betrachtungsweise lediglich eine Steigerung der Arbeitslosigkeit von
1,5 Mio. angesetzt.
FAZIT:
Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist gestiegen, weil das Land billiger und nicht weil es besser
geworden ist. Diejenigen die besser werden, sind langfristig im Vorteil, weil ihnen auf höherem Niveau noch eine zusätzliche
Option bleibt - nämlich billiger zu werden.
Deutschland ist billiger und nicht besser geworden.
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte können die Modellannahmen gemäß Kapitel 1 als gültig angesehen werden. Die Prognose
aus dem Jahr 1995 im Sinne einer Szenariobetrachtung bleibt daher richtig; und zwar im Hinblick auf die zu ziehenden
Konsequenzen für das praktische Handeln der Politik.